Vom Pico Arieiro zum Pico Ruivo

Blick vom Pico Ruivo auf Pico Grande

Wie immer hat mich meine romantische Naivität glauben lassen, ich wäre alleine auf der Welt und niemand außer mir hätte die Idee, sich zu dieser anstrengenden Gipfelwanderung aufzumachen. Natürlich weit gefehlt. Schließlich sollen sogar auf den Mount Everest inzwischen Kolonnen unterwegs sein. Es ist ein herrlicher Tag, die Wolken liegen unter uns und es wird mit jedem Schritt wärmer. Was nicht nur an der Temperatur liegen mag. Schaut man vom Pico Arieiro zum Gipfel des Pico Ruivo, scheint die Entfernung nicht allzu groß zu sein. Doch dazwischen liegt ein tiefes Tal, sodass der erste und längste Teil der Wanderung auf in den Stein gehauenen Treppen steil bergab führt. Meine Wanderstöcke sind keine allzu große Hilfe, weil sie auf dem felsigen Untergrund keinen Halt finden und weil ich mich gerne am Seil festhalte, dass mich vom Abgrund trennt. Doch allmählich verliere ich meine Höhenangst, sosehr beschäftigen mich die Anforderungen des Steiges und die überwältigenden Aussichten. Eine gute Therapie, noch dazu kostenlos.

Das gelbe Manderl mit rotem Rucksack bin ich

Und immer weiter hinunter. Zwischendurch enge, lichtlose Tunnel. Meine Taschenlampe ist eine kraftlose Funzel und meine Sonnenbrille verdunkelt auch diese. In den Tunneln steht Wasser, dem man kaum ausweichen kann, auch wenn man besser sieht als ich. Es tropft auch von oben. Doch wie immer gibt es Licht am Ende des Tunnels (sie wurden übrigens von Hand gegraben und gehauen). Ab und zu geht es eine kurze Strecke eben dahin oder sogar bergauf, doch meine Hoffnung, nun endlich das kniestrapazierende Bergabsteigen hinter mir zu haben, erfüllt sich nicht. Wieder endlose Treppen noch tiefer hinunter. Der Gipfel des Ruivo rückt mit jedem Schritt in weite Ferne, bzw. Höhe. Doch niemand hat gesagt, dass es einfach wird. Bis zum Gipfel soll es immerhin drei Stunden dauern. Doch mit wechselnden Aussichten auf die umliegenden Berge und auf Nebelschwaden, die langsam die Täler hochschleichen, und zwischendurch, wo die Wolkendecke aufreißt, auf das Meer und die Küstenorte, wird man für alle Strapazen belohnt.
Baumskelette, Folge des großen Waldbrandes im Jahr 2016, glänzen silbern auf dem Hintergrund grüner Vegetation und vielfarbiger Felswände.


So schmal die Steige auch sind, man muss immer wieder den Entgegenkommenden bzw. den flotteren Wanderern ausweichen. Hin und wieder begegnen wir Wahnsinnigen, die den Weg offenbar laufend zurücklegen. Vor Schweiß triefend, einen Energy Drink in der Hand, den ernsten Ausdruck der Bedeutsamkeit ihrer Leistung im Gesicht, drängen sie an uns gewöhnlich Sterblichen vorbei. Von der Schönheit dieser Berge bekommen sie nicht viel mit. Naja, zumindest tröste ich mich damit über die eigenen körperlichen Schwächen hinweg.

Bevor Touristen diese Berge für sich entdeckt haben, waren diese Wege den Hirten und ihren Schafen und Ziegen vorbehalten, selbstverständlich ohne die komfortablen Stufen und Seile. Die Kinder der armen Bauern in den Bergtälern mussten sich um die wenigen Kühe und alle anderen Tiere kümmern. Stall ausmisten, melken, füttern und auf nahrhafte Plätze führen, was oft mit Klettern verbunden war. Madeira war früher ein sehr armes Land. Da hätten sie oft den Sauerampfer gegessen, der hier oben üppig wächst, erzählt ein Einheimischer und hält mir das Kraut vor das Gesicht — hab ich als Kind auch, denke ich, sag ich aber nicht — jetzt nicht mehr, meint er, jetzt seien sie reich. Ob es ironisch gemeint war, war nicht ganz klar. Sicher hat der Tourismus dem Land Segen und auch Fluch gebracht, wenn man den Wildwuchs der Hotelklötze an der Südküste betrachtet. Wir haben uns aus diesem Grund eine ehemalige Quinta ausgesucht, früher wahrscheinlich ein Weingut. Jedenfalls steht eine alte Presse im Garten.
Ein Stück des eigentlichen Pfades ist zur Zeit gesperrt, was bedeutet, dass wir ihn mit einer zusätzlichen Fleißaufgabe umgehen müssen. Über provisorische Eisentreppen mehr oder weniger senkrecht hinunter und ebenso wieder hinauf. Für Kurzbeinige eine Qual, sind die Abstände der Stufen, wahrscheinlich aus Kostengründen, weit über dem Normalmaß. Doch mit den Schwierigkeiten wächst die Kraft. So eine Wanderung ist eine wertvolle Lebensschule, meint ein Mann hinter mir. Auch im Leben geht es immer wieder bergab und bergauf und irgendwann nur noch bergab. Wie wahr. Aber erstmal müssen wir hinauf.


Die letzte Stunde bis zum Gipfel hat es in sich. Wir treffen auf die ersten Wanderer, die sich offensichtlich überschätzt haben. Ein Bergführer steht ratlos vor einer älteren Dame, die im wahrsten Sinn des Wortes in den Seilen hängst. Ihr Mann hat es zwar bis zur Hütte unter dem Gipfel geschafft, ist aber gestürzt und muss verarztet werden. Wie man die beiden wieder ins Tal gebracht hat, frage ich mich noch immer. Die letzten Meter bis zum Gipfel kosten auch mich die restlichen Kraftreserven. Endlich geschafft. So gut hat mir selten ein Schinkenweckerl geschmeckt. Müde, aber glücklich genieße ich die Aussicht über die gesamte Insel. Es ist nicht selbstverständlich, zumal nicht zu dieser Jahreszeit, dass der Himmel hier oben wolkenlos bleibt. Oft hängen spätestens gegen Mittag die Wolken über den Gipfeln. In der Hütte kann man im Winter nicht übernachten, aber Gott sei Dank müssen wir nicht mehr denselben Weg zurückgehen, sondern es gibt einen gemütlichen Weg auf ein Hochplateau, Achada do Teixeira, wo Taxifahrer allzu bereit auf müde Wanderer warten. Zum Abschluss noch ein Poncha, ein traditionelles Getränk auf Madeira, das es ebenfalls in sich hat. Der echte enthält nämlich kein Wasser, sondern nur Zuckerrohrschnaps, Melasse, Rum und eine Limone. Saude!

2 Gedanken zu „Vom Pico Arieiro zum Pico Ruivo“

  1. Bravo ! Hochachtung ! Gratulation !!! Und es war ganz leicht, dir zu folgen, denn die Schilderung ist so eindringlich, dass man sich an deiner Seite fühlt. Wir waren zwar 2006 auf Madeira, aber erst jetzt haben wir es besser kennengelernt ! Liebe Grüße und noch schöne Tage !!! Elfie und Franz

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  2. Meine kleine aber <GROSSE< Schwester, ich bin stolz auf <DICH<
    du bist so Mutig und eine Tunnelforscher!! Die Bilder wie deine Berichte
    Traumhaft!! Man kann nur lernen!! pass gut auf dich auf!
    Deine Einzige

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