Ab und zu muss es sein. Ein Einkauf ist fällig. Wirklich dringend brauche ich zwar nur Salz, aber wenn ich schon mal losgehe, findet sich bestimmt noch mehr. Das erfordert genaue Planung. Welcher Zeitpunkt ist der günstigste? Früh am Morgen? Das denkt wahrscheinlich jeder, also besser nicht. Um die Mittagszeit? Dann holen alle Jugendlichen, die noch arbeiten, ihre Leberkässemmeln. Sie treten meistens in Scharen auf und denken nicht daran, genug Abstand zu halten. Nicht, weil sie mich für ihresgleichen und ebenso unverwundbar halten, sondern weil sie denken, dass ich ohnehin schon … ach, ich will gar nicht wissen, was sie denken, wahrscheinlich überhaupt nichts. Also auf keinen Fall mittags. Nachmittags gehen vermutlich die Kurzzeitarbeiter einkaufen, gegen Abend dann die Home-Office-Worker. Keine leichte Entscheidung. Eigentlich ist es egal. Voll ist es immer, während die Regale meistens schon leer sind, wenn ich komme. Seit Tagen suche ich Vollkornreis. Ich wusste nicht, dass er so gefragt ist. Bei Spaghetti habe ich das erwartet. Meinetwegen auch bei Basmati- oder Risottoreis. Aber doch nicht Vollkornreis! Den mag ja nicht einmal ich, obwohl ich mich durchwegs gesund ernähre. Auch tiefgekühlte Erbsen und Spinat sind seit langem Mangelware. Wir Menschen sind einander doch ähnlicher als ich dachte.
Ich gehe also einkaufen, wenn mir danach ist und lass mich überraschen.
Wie verlasse ich meine Wohnung? Auch das will überlegt sein. Handschuhe oder nicht Handschuhe? Ist es besser, das Virus mit den Handschuhen heim zu schleppen, wo es wahrscheinlich mehrere Tage virulent bleibt (ist ein Virus nicht immer virulent, und wenn es nicht mehr virulent ist, ist es dann noch ein Virus?), oder auf der nackten Haut? Die man immerhin waschen kann. Ich entscheide mich gegen Handschuhe. Mit oder ohne Maske? Zwar soll sie ohnehin nicht helfen, aber ich habe zumindest ein besseres Gefühl. Sie signalisiert: ich schau auf mich, besonders aber auf dich. Die Maske ist eine dieser hellgrünen OP-Masken, die man mittels Gummi hinter den Ohren befestigt. Es ist ein Onesize- und Unisex-Modell und will sich partout nicht an meine Wangen anschmiegen. Außerdem drückt sie am Nasenrücken. Mit jedem Atemzug laufen meine Brillengläser an. Vielleicht sollte ich jetzt besser Linsen tragen? Ich entscheide mich gegen die Maske. Zur Vorsicht ziehe ich einen anderen Mantel an wie letztes Mal. Falls ich in die Armbeuge gehustet oder mit dem Ellbogen die Haustür geöffnet habe sollte. War nicht mein Nachbar gerade noch in der Flachau beim Skifahren? Ich schärfe mir noch einmal ein, mir ja nicht mit den Händen ins Gesicht zu fassen, solange ich im Feindesland unterwegs bin.
Kaum gehe ich aus der Haustür, will just im selben Moment jemand rein. Ich pralle zurück. Zu spät. Die Tür ist bereits hinter mir ins Schloss gefallen und die Person ist mir gefährlich nahe gekommen. Näher als einen Meter. So muss sich ein Tormann fühlen, wenn der Ball neben ihm ins Netz geht.
Jetzt bin ich auf der Straße. Von weitem sehe ich meine Nachbarin kommen. Wir sind eigentlich befreundet, aber als sie mich sieht, nimmt sie ihren Zwergpudel auf den Arm und wechselt die Straßenseite. Ich rufe ihr noch einen Gruß nach, sie wirft mir ein knappes Hallo über die Schulter zurück und eilt weiter. Ihr persönlich wäre es egal, wenn sie krank würde, hat sie mir verraten, als wir noch miteinander sprachen, aber sie müsse schließlich an den Hund denken. Wer solle ihn denn Gassi führen, wenn sie daniederliege oder, noch schlimmer, sterbe? Damals, in Prä-Corona-Zeiten, pflegte der Hund an mir hochzuspringen und meine Hand zu lecken, wenn ich ihn streichelte. Daran ist jetzt natürlich nicht mehr zu denken. Zwar habe ich noch keinerlei Symptome, aber wer weiß? Ich streichle den Hund, das böse Virus bleibt in seinen Locken kleben, springt auf sein Frauchen über, die wird krank, stirbt, der Hund wird Vollweise … nicht auszudenken. So muss ich die flüchtige Begrüßung meiner Nachbarfreundin tapfer hinnehmen.
Es fahren weniger Autos als normal. Zur Not kann ich auf die Straße ausweichen, wenn mir auf dem Trottoir mehr als zwei Personen entgegen kommen. Schwieriger wird es beim „Um-die-Ecke-Gehen“. Wer viel mit Krimis zu tun hatte wie ich, weiß, dass man erst vorsichtig um die Ecke lugt, ehe man sich in die Schusslinie begibt. Ich kann nur hoffen, dass nicht zur gleichen Zeit eine andere Person das gleiche tut. Im Film handelt es sich dann um eine Komödie. In der momentanen Realität nicht.
Glücklicherweise gibt es nur eine Ecke zwischen mir und dem Supermarkt. Davor wartet ein Hund. Der Glückliche hat keine Ahnung, wie bald er vielleicht ohne Herrchen oder Frauchen auskommen muss. Auch die bettelnde Romafrau sitzt ungerührt auf ihrem Schemel. Sie ist mit Sicherheit über 65, somit Angehörige einer Risikogruppe und sollte besser zuhause bleiben. Ich wüßte nicht, wie ich ihr jetzt eine der Obdachlosenzeitungen „abkaufen“ sollte, ohne uns beide in Gefahr zu bringen. Ein Blick in das Innere des Geschäfts zeigt mir, es ist nicht die günstigste Zeit, um einzukaufen. Egal. Jetzt bin ich schon einmal hier. Am Obststand stehen zu viele Menschen. Ich warte mit gebührendem Abstand, bis eine Dame, die sämtliche Avocados auf ihre Reife prüft, sich endlich entscheidet. Doch ein Herr hinter mir hat es eilig. Er überholt mich — ohne Abstand! — und macht sich an den Äpfeln zu schaffen. Er nimmt jeden einzelnen in die Hand und beäugt ihn von allen Seiten, um nur ja keine Druckstelle oder beginnende Fäule zu übersehen. Ich hoffe, er hat bald alle durchgesehen. Schließlich muss ich mich beeilen, bevor sich hinter mir eine Schlange bildet und Unmut aufkommt. Eigentlich wollte ich ebenfalls Äpfel und Avocados kaufen, wenn ich schon mal hier bin, aber jetzt zögere ich. Meine Beobachtungen haben mir mit einem Schlag das gefährliche Abenteuer meines Supermarktausfluges vor Augen geführt. Zucchini, Auberginen, Birnen, Tomaten, Zitronen und Orangen. Kohlrabi, Sellerie, Kartoffel und Zwiebel. Plötzlich sehe ich sie in einem ganz anderen Licht. Frisch, bunt, gefährlich. Auch die Gummihandschuhe der Angestellten schützen zwar ihre Träger, aber nicht die Ware, die sie einschichten. Mit sehr gemischten Gefühlen lege ich alles in den Einkaufswagen. Halt! Der Griff des Einkaufswagens! Höchst infektiös! Wie konnte ich nur so gedankenlos und leichtsinnig sein! Selbst wenn Gemüse und Früchte bisher virusfrei gewesen sein sollten, spätestens jetzt sind sie es nicht mehr. Zu spät. Die nächste Krisensituation droht. Die Warenladungen mit dem dazugehörigen Personal versperren sämtliche Fluchtwege, will ich den herumtobenden Kindern ausweichen. Irgendwo müssen sie ja ihren Bewegungsdrang ausleben. Die quengelnden Kleinen reißen Schokolade aus den Regalen, gestresste Mütter reißen sie ihnen wieder aus der Hand und legen sie zurück ins Regal. Bevor der nächste Rentner sie in seinen Korb legt, nach Hause trägt und sich beim Öffnen der Süßigkeit den Tod holt. Natürlich ist auch heute kein Vollkornreis vorrätig. Spaghetti habe ich ohnehin schon abgeschrieben. Ich ertappe mich dabei, Dinge mitzunehmen, die ich noch nie im Leben gekauft habe, einfach nur, weil sie vorhanden sind. Nein, Klopapier kaufe ich nicht. Ich mache mich doch nicht lächerlich.
An den Kassen sind die Schlangen länger als gewöhnlich. Weil einige tatsächlich den empfohlenen Meter Abstand zum Vordermann/frau einhalten. Die Schlangen reichen allerdings in die Gänge hinein, die wenig mehr als einen Meter breit sind. Wer jetzt etwas aus einem bestimmten Regal braucht, muss warten, bis die Schlange schrumpft. Oder man stellt sich gleich an und nimmt sozusagen im Vorwärtsrücken das Gewünschte aus dem Regal. Dazu sollte man allerdings die genaue Position der einzelnen Waren kennen. Ich nehme mir vor, daran zu arbeiten.
Die Kassiererin hinter der Plexiglasscheibe sieht müde aus. Dagegen helfen auch die dankbaren Worte des Bundeskanzlers nicht. Sie gibt mir das Wechselgeld zurück. Ihre Hände stecken in schwarzen Gummihandschuhen. Die wirken auf mich nicht gerade beruhigend. Eher erinnern sie mich an Mörderhände in einem Horrorfilm, während mich meine nackte Hand an den Hals des unschuldigen Opfers denken lässt. Durch wie viele Hände ist dieser 20-Euro-Schein schon gewandert? Und erst die Münzen? Und wie viele Viren befinden sich auf meiner Geldbörse? Ich werde sie waschen müssen. Beim Schein wird das schwierig werden, obwohl, so mancher hat sogar die Waschmaschine überstanden, wenn er in einer Hosentasche übersehen wurde.
Endlich habe ich den Ort der maximalen Gefahr verlassen, bin zweimal auf die Straße ausgewichen, schnell und sicher um die Ecke gehuscht und stehe nun vor dem Geldautomaten. Ein neuer Krisenherd. Unzählige Hände haben die Tasten berührt, unzählige Bankomatkarten wurden in den Schlitz gesteckt. Wie soll da ausgerechnet meine wieder unbeschadet herauskommen? Wer weiß wie viele haben auf den Screen gehustet, geniest oder gespuckt. Wie kann ich davon einen Meter Abstand halten, wenn ich Geld abhebe? Zum Glück ist der Automat außer Betrieb. Wahrscheinlich hat’s ihn erwischt. Besser so. Demnächst werde ich nur noch mit Karte bezahlen. Mit welcher Karte? Mit der, die ich eben mit meinen kontaminierten Fingern aus meiner kontaminierten Börse gezogen habe? Auch sie werde ich waschen müssen. Auf die Gefahr hin, dass sie dann nicht mehr lesbar ist.
Endlich habe ich das Haustor erreicht. Ein Blick durch die Glastür zeigt mir, der Flur ist leer. Jetzt schnell hinein. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss. Jesus, der Schlüssel! Wie lange schon benütze ich ihn, ohne mir Gedanken gemacht zu haben? Der strotzt wahrscheinlich von Corona Viren. Ich werde auch ihn waschen müssen. Mit Seife, mindestens 30 Sekunden lang. Es juckt in meinem linken Auge. Um Gottes Willen! Nur nicht hinfassen. Jetzt ist Konzentration gefragt. Jucken hört nicht auf, wenn man weiß, das man sich nicht kratzen darf. Wahrscheinlich juckt es gerade deswegen. Die Nerven. Die Nerven. Zur Zeit sind meine Nerven einer schweren Prüfung ausgesetzt.
Früher habe ich den Postkasten erwartungsvoll aufgeschlossen. Jetzt habe ich Angst vor jedem Brief, jeder unerwünschten Werbesendung, jeder Zeitschrift. Wer hat sie verschickt? Wer in meinen Kasten gesteckt? Wie soll ich sie rausnehmen, ohne sie mit meinen Händen zu berühren? Wie sie öffnen, selbst, nachdem ich sie mir gewaschen und desinfiziert habe? Soll ich die Briefe vielleicht auch… nein, was zu weit geht, geht zu weit. Ich beschließe, den Kasten nur jeden zweiten Tag zu öffnen. Damit reduziere ich meine Ansteckungsgefahr um 50%. Oder zögere sie zumindest hinaus. Ist ja nichts wirklich dringend zur Zeit. Selbst bei Strafmandaten wird man ein Nachsehen haben. Die Polizei hat jetzt andere Sorgen.
Habe ich geglaubt, mit Erreichen meiner Eingangstür ist der Stress vorbei, habe ich mich gewaltig geirrt. Logistik ist gefragt. Mit dem verseuchten Schlüssel muss ich die Tür aufsperren. Dabei lässt es sich nicht vermeiden, den Türknauf zu berühren. Im Vorzimmer ziehe ich meinen Mantel aus und hänge ihn mit spitzen Fingern auf. Den werde ich die nächsten Tagen nicht mehr anziehen können. Dann öffne ich mit meinem Ellbogen – auch der Pullover, den ich trage, muss für einige Zeit unbenützt bleiben – die Badezimmertür und wasche mir die Hände. Mindestens 30 Sekunden, mit Seife. Jetzt könnte ich mir ins Auge fassen, um das Jucken abzustellen. Aber jetzt juckt es nicht mehr. So. Nun muss ich den Griff der Eingangstür desinfizieren. Doch mein kleines Fläschchen mit Desinfektionsmittel, das ich einst in letzter Sekunde für viel Geld ergattert habe, ist zu kostbar für Türschnallen. Besser waschen. Mit Seife. 30 Sekunden. Was den Händen hilft, muss auch den Schnallen helfen. Nun zur Geldbörse. Hier opfere ich ein paar Spritzer des Desinfektionsmittels. Mit dem Ergebnis, dass die schöne rote Farbe abgeht. Schönheit muss jetzt eben leiden, denke ich. Nicht nur bei Geldbörsen, wie mir ein flüchtiger Blick in den Spiegel zeigt. Vielleicht sollte ich mir wieder einmal die Haare waschen. Auch wenn mich niemand ansieht. Nicht einmal ein Hund. Und wenn ich sie gewaschen habe, dann schminke ich mich und mache ein paar Videoanrufe. Selbstverständlich werde ich eine E-Mail vorausschicken. Mein Gegenüber soll ja die Gelegenheit bekommen, sich ebenfalls die Haare zu waschen und zu schminken. Aber zuerst muss ich das Eingekaufte waschen. Mit Seife. Oder Spülmittel? Oder alles schälen? Es klingelt. Wo ist mein Handy? O Gott, es liegt auf der Post von gestern. Ich muss es sofort waschen.
Leider habe ich vergessen, Salz zu kaufen.