Am letzten Tag meines Aufenthaltes auf Lipari entschließe ich mich, den Monte Rosa, der Lipari Stadt von Canneto trennt, zu besteigen. An Wanderern scheint man auf der Insel nicht sehr interessiert zu sein, denn entgegen den Ankündigungen im Internet, welch wunderbare Wanderwege es hier geben soll, erzählen die Menschen etwas anderes. Die Wege seien zwar vorhanden, aber schwer zu finden, weil sie größtenteils zugewachsen sind. Der Monte Rosa wird in den Prospekten erst gar nicht erwähnt. Ich versuche es trotzdem. Bis zu den wenigen Häusern, die an den Hängen liegen, sind die Wege gepflastert. Danach muss ich raten, denn Hinweisschilder sind ebenfalls nicht vorhanden. Das Gipfelkreuz, das man von beiden Orten sieht, gibt mir die Richtung vor. Und anfangs scheint der Weg gar nicht so schlecht zu sein, obwohl er alles andere als gepflegt ist. Die wilde Vegetation auf beiden Seiten gibt nur manchmal den Blick auf das Meer und die Küsten frei. Nach einer Weile geht es wieder bergab — habe ich doch die falsche Richtung eingeschlagen—? , doch es ist nur eine Senke, bevor der Pfad wieder ansteigt. Dann wird er zunehmend von Pflanzen überwuchert. Doch Fußspuren zeigen mir, dass hier immerhin mal Menschen unterwegs waren. Jede Menge Geckos kreuzen meinen Weg, in einem Spinnennetz hängt eine riesige Spinne, unter mir kreisen Möwen. Ich meine mich zu erinnern, dass in der Kapelle auf dem Gipfel einmal im Jahr eine Messe zu Ehren irgendeines Heiligen gelesen wird. Das scheint aber lange her zu sein. Die Kapelle ist dann auch eine herbe Enttäuschung. Ein schmutziger Betonklotz ohne jeden Charme, das Gipfelkreuz eine hässliche Eisenkonstruktion, die Umgebung alles andere als einladend. Schade, dass die Stadt sich nicht mehr Mühe gibt. Wenigstens die Aussicht ist schön. Auf dem Rückweg begegnen mir dann doch ein paar Touristen. Ich fotografiere wenigstens einige Pflanzen, die mir fremd sind, um sie dann mit einer App zu bestimmen.
Heute verlasse ich Lipari und fahre mit dem ersten Aliscafo nach Stromboli. Schon am Hafen werben mehrere Bootsbesitzer für ihre Touren. Sie bieten alle das Gleiche an. Eine nächtliche Tour zur Sciara d‘un Fuocu und eine Inselrundfahrt. Doch zur Zeit ist es nicht selbstverständlich, eine Tour zu buchen. Es gibt offenbar nicht mehr genügend Interessenten und wenn es nicht mindestens 5 Personen sind, dann wird es sehr sehr teuer. Frank hat die nötige Anzahl schon zusammen. Allerdings, so gibt er zu bedenken, ist es keineswegs sicher, dass wir das Feuer, das der Stromboli alle 10 bis 20 Minuten ausspuckt, überhaupt sehen. Oft, wahrscheinlich sogar meistens, bilden sich um den Krater Wolken. Nun gut, die regelmäßig aufsteigende schwarze Rauchfahne sieht man auch von hier. Aber natürlich will ich das Feuer sehen und am besten die glühende Lava, die über die Sciara d‘un Fuocu ins Meer strömt. Es ist also Glücksache. Wie alles im Leben.
Mein Apartment befindet sich in einem alten Haus nahe am Hafen und ist sehr liebevoll eingerichtet. Allerdings ohne Wifi. Von der Rezeption bekomme ich den Rat, zu relaxen. Wozu brauche ich Internet. Nun, das Hotel hat mit Sicherheit eines, läßt seine Gäste aber nicht teilhaben. Überhaupt scheint hier ein anderer Wind zu wehen. Schon am Vortag wurde ich aufgefordert, das Zimmer zu bezahlen, ansonsten wäre die Reservierung hinfällig. Man stelle sich vor, ich hätte auch auf Lipari kein Internet gehabt und von dieser Aufforderung nichts gewusst. Morgen um 10h muss ich das Apartment wieder verlassen. Danach gilt es, die Zeit, bis mein Schiff nach Napoli um 22h ablegt, irgendwie zu füllen. Den Ort habe ich schon am Ankunftstag ausgiebig besichtigt. Eigentlich dachte ich, ich könnte eine Tour um die Insel machen, aber: siehe oben. Ein erster Rundgang macht klar, Stromboli ist teuer. Man lässt sich den Vulkan bezahlen. In den verwinkelten Gassen der Altstadt erkennt man noch andeutungsweise die alten Gassen aus dem Film Stromboli von Rossellini. Allerdings sind sie nicht mehr so düster und abweisend, sondern leuchtend weiß und ähnlich wie auf Panarea, mit üppiger Blumenpracht geschmückt. Zumindest in der engen Hauptstraße, in der ein reger Verkehr von Scootern und dreirädrigen kleinen Lastautos die Fußgänger an die Hauswände drängen. Der Film ist übrigens überall gegenwärtig. Ihm verdankt Stromboli schließlich den Aufstieg von einem unbedeutendem Fischerdorf zu einem Touristen Hotspot. Mein Apartment heißt natürlich Ingrid House und an den Wänden wie im ganzen Ort hängen Plakate und Bilder von Ingrid Bergmann. Ich habe mir gestern noch einmal den Film auf YouTube angesehen. Er ist wirklich ein Meisterwerk und die Bergmann eine großartige Schauspielerin.
Leider ist das Museo del Cinema geschlossen.
Ich sitze auf der Terrasse meines Apartments und beobachte den Vulkan. Wolkenfrei ist er leider nicht, aber wie kann er das überhaupt sein, wenn ständig Aschensäulen hochsteigen? Bilde ich mir das ein oder riecht es tatsächlich nach Feuer?
Um sechs ist es soweit. Zu siebt steigen wir mit Frank in ein großes Schlauchboot. Es ist noch hell, kurz vor Sonnenuntergang. Zuerst geht es zum Strombolicchio. Ein wuchtiger, zerklüfteter Felsbrocken, der der Insel vorgelagert ist, mit bizarren Formationen. Dann tuckern wir gegen den Uhrzeigersinn auf die andere Seite der Insel, dem Sonnenuntergang entgegen, bis zur Sciara. Das ist die „Straße“, die die Lava zum Meer nimmt. Solange kein großer Ausbruch bevorsteht, sind die zwei Orte auf Stromboli in Sicherheit. Rauch steigt aus allen fünf Kratern und türmt sich auf in den Himmel. Bald sind die ersten Flammen zu sehen, die sich aber vom noch zu hellen Hintergrund wenig abheben.
Wieder einmal verfluche ich mein Handy, alles wird unscharf, sobald ich näher ranzoomen will. Warum bin ich nur zu faul, eine richtige Kamera mitzunehmen, mit der man ordentliche Fotos machen kann? Langsam wird es dunkel und am Hang entlang blinken kleine Lichter. Das sind die Tapferen, die den Aufstieg von drei Stunden in Kauf nehmen, um dem Krater nahe zu kommen. Bis ca. 200m darf man alleine gehen, danach nur noch mit Führer. Allerdings auch nur bis zu einer Höhe von 400m. Der Vulkan selbst ist knapp 1000m hoch. Seit einem größeren Ausbruch im Jahr 2019 ist die Gefahr, von ausgespuckten Gesteinsbrocken erschlagen zu werden, zu groß. Das Risiko, den Gewaltmarsch auf mich zu nehmen ( vom Abstieg in totaler Finsternis ganz zu schweigen) und dann vielleicht wegen der Wolken nichts zu sehen, wollte ich nicht eingehen. Da sitzt es sich im Boot wesentlich bequemer. Keiner spricht ein Wort. Wir schauen alle gebannt auf IHN, die Kameras bzw. die Handys im Anschlag. Und wir kommen auf unsere Kosten. Aus den bescheidenen Flammen werden immer länger andauernde Feuer, bis sie schließlich sprühend und mit einem dumpfen Knall explodieren und sogar Lava im oberen Bereich hinunterfließt. Jedesmal schreien wir begeistert auf und vom Berg herunter ertönt wie ein Echo das gleiche Aaahhh!!! Ich habe mein Handy schon lange weggesteckt und schaue mit offenem Mund auf dieses grandiose Schauspiel. Warum ist das so faszinierend? Solange diese Eruptionen halbwegs gemäßigt bleiben und die austretende Lava den gewohnten Weg über die Sciara nimmt, ist der Stromboli eine Touristenattraktion, von der die etwas über 400 Einwohner der Insel gut leben. Aber wehe, wenn ER sich nicht mehr dran hält. Dann ist es vorbei mit dem wohligen Schauer in Sicherheit, dann wird ein großes Geschrei sein und keiner wird mehr die Kamera zücken, sondern in Panik verfallen und um sein Leben rennen, bzw. schwimmen.
Nach etwa einer Stunde, die wir staunend und schaukelnd in den Wellen verbracht haben, fahren wir wieder zurück in den Hafen. Ich lege mich auf den Boden des Bootes und schaue in den Sternenhimmel, der von keiner Lichtquelle gestört wird. Es ist Neumond.
In meinem Apartment geschehen seltsame Dinge. Ein plötzlicher Schlag gegen die Tür und dann ein heftiges Rütteln. Mehrmals öffne ich, weil ich draußen jemanden vermute. Doch niemand ist zu sehen. Alles ist dunkel und still bis zur nächsten Erschütterung. Sollten das die Druckwellen der Vulkanausbrüche sein? Ich schließe die Tür zum Schlafzimmer, um nicht im Schlaf gestört zu werden, doch auch diese Tür wird in regelmäßigen Abständen gerüttelt. Ein Erdbeben? Aber dann müsste ja der ganze Raum wackeln. Es ist nicht einfach, auf einem aktiven Vulkan zu schlafen.
Der Gedanke, zehn Stunden ohne Bleibe zu sein, angesichts der vielen geschlossenen Restaurants bzw. deren Preise, beschließe ich, noch bis zum Abend das Apartment zu behalten und draufzuzahlen. Leider ist das Ingrid House reserviert. Man bietet mir stattdessen für 70 Euro ein anderes Zimmer in einer Dependance des Ossidiana an, das ich frühestens um Eins beziehen und bis Neun Uhr benützen könnte. Der Preis ist nicht gerade wenig für die paar Stunden, und als ich das Zimmer sehe, eindeutig überbezahlt. Ein billige Absteige in einem Betonbunker, in der es penetrant nach Putzmittel stinkt. Der Garten entpuppt sich als ein von Betonmauern umgebener Innenhof, in dem sich ein leeres Wasserbecken und ein morscher Liegestuhl befinden. An einer Wand mehrere Duschkojen mit verfärbten Kacheln, die wie Pissoirs aussehen. Vor dem Eingang Plastiksäcke, prall gefüllt mit Müll.
Zu allem Übel steht nicht fest, ob Frank genug Leute für den Trip um die Insel zusammen bekommt. Am Hafen baggert seit dem frühen Morgen ein Kran irgendetwas aus dem Wasser. Die Baustellen scheinen mich zu verfolgen. Der Strand ist lang, schwarz und steinig und sich selbst überlassen. Nach dem Motto: wir haben das schönste Meer der Welt, wer braucht da schon einen Strand. Kein bisschen Schatten weit und breit. Was mache ich bloß hier? Einen kurzen Spaziergang und beten, dass ich auf das Boot komme. Als ich wieder zum Hafen zurückkehre, winkt mir Frank aufgeregt zu. Es haben sich noch drei Personen angemeldet und er wird fahren. Es sind ein Ehepaar aus dem Burgenland und eine ehemalige Burgenländerin, die in Palm Beach lebt. Erste Station Ginostra.
Das Dorf liegt hoch über einer aus gigantischen Steinbrocken bestehenden Felswand, an der Arbeiter an Seilen hängen, Gott weiß was sie da vorhaben. Den Ort vor dem Abrutschen bewahren? Eine gepflasterte Serpentine führt hinauf in das Dorf. Hier erfasst mich erst recht der Inselkoller. Wie gut kann ich Karin alias Ingrid Bergmann im Film Stromboli verstehen. Der Ort, über dem der Vulkan droht, besteht aus einer Kirche, ein bis zwei kleinen Läden, vor denen einige Katzen in der Sonne dösen, einer Bar und einem Restaurant, selbstverständlich geschlossen. Ein paar Häuser. Sonst nichts. Nicht einmal fließend Wasser. Das muss hierher gebracht werden. Nicht zu vergessen ein paar Baustellen, auf denen Männer mit verstaubten Gesichtern und verbranntem Oberkörper arbeiten. Sie erinnern an Karins Ehemann Antonio, un uomo semplice.
Ich bin froh, als wir wieder auf dem Meer sind. Im tintenblauen Wasser am Strombolicchio werde ich das klaustrophobische Gefühl wieder los.
Zurück im Hafen. Die 70€ hätte ich mir sparen können, denn in dem Loch halte ich es nicht aus. Also sitze ich am Strand und schreibe diese Zeilen. Am Abend werde ich mich meinen Landsleuten anschließen und zum Observatorium wandern. Von dort soll man noch einmal einen schönen Blick auf die Krater haben. Was wäre Stromboli ohne seinen Vulkan und das Meer. Und ohne Rossellini.
Um 22h verlasse ich die Äolischen Inseln und fahre zurück nach Neapel, wo die Erde hoffentlich nicht bebt und der Vesuv Ruhe gibt. Noch lange begleitet uns das Feuer des Stromboli.